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„Es ist ein weiter Weg bis dahin, dass die Leute begreifen, dass das Urheberrecht in seiner herkömmlichen Form keinen Sinn ergibt.“

Dieses Interview mit Lawrence Lessig zum zehnten Geburtstag von Creative Commons ist zuerst im „Jahrbuch Netzpolitik 2012 – Von A wie ACTA bis Z wie Zensur“ erschienen.

netzpolitik.org: Sicher hast du diese Frage schon viel zu oft beantwortet, aber warum habt ihr Creative Commons gegründet?

Lawrence Lessig:
Der konkrete Anlass war, dass wir damals den Fall Eldred vs. Ashcroft verhandelten, und Eric Eldred war skeptisch, ob wir den Fall gewinnen könnten. Und er sagte, er wolle sicherstellen, dass bei der Verhandlung nicht bloß ein verlorener Fall vor dem Supreme Court heraus käme, sondern dass daraus ein tragfähiges Fundament entstehen würde für das, was wir heute Freie Kultur nennen.

Ich fand das richtig; und ich erkannte (was noch wichtiger war), dass wir, um jemals echte Veränderungen zu bewirken, bei den Menschen selbst auf Verständnis hinwirken müssten. Das hier würde sich nicht von oben verordnen lassen, es würde von unten wachsen müssen. Also begannen einige von uns darüber zu sprechen, wie man so eine Bewegung schaffen könnte, um diese Idee umzusetzen: Wie man Menschen in die Lage versetzen könnte, zu zeigen, dass sie an keines der beiden Extreme glauben – weder an perfekte Kontrolle noch an den Verzicht auf sämtliche Rechte. Und das war die Initialzündung für Creative Commons.

netzpolitik.org: Es gab doch schon mehrere Open-Content-Lizenzen. Warum habt ihr eigene CC-Lizenzen entwickelt, statt zum Beispiel die bestehenden Lizenzen der Free Software Foundation zu unterstützen?

Lawrence Lessig: Das hatte zwei Gründe. Erstens dachten wir, dass wir einen größeren und flexibleren Bereich von Lizenzen bräuchten. Die Free Document License ist zum Beispiel so ein Fall einer freien Lizenz, die sich nicht unbedingt auf alle Arten von Material anwenden lässt. Aber zweitens fanden wir es wirklich wichtig, dass man seine eigenen Lizenzen verstehen kann; es war sehr wichtig, endlich eine Architektur einzubetten, die (A) menschenlesbar, verständlich wäre, (B) maschinenlesbar und (C), ganz wesentlich, auf dem Rechtsweg durchsetzbar. Und keine der anderen Lizenzierungsstrukturen da draußen hatte diese Anforderungen berücksichtigt, drei Sprachen zugleich sprechen zu können. Das gab uns den Anstoß zu diesem Konstrukt. Von Anfang an hatten wir es uns auf die Fahne geschrieben, zwischen den freien Lizenzen Portabilität zu ermöglichen; mit der Free Document License ist uns das gelungen, und bei der Free Art License sind wir da noch in Gesprächen. Unsere Idee war, dass es irgendwann egal sein soll, in welchem Bereich freier Lizenzen man sich bewegt, Hauptsache, es findet sich eine äquivalente freie Lizenz, die CC-kompatibel ist.

netzpolitik.org: Du hast gesagt, CC sei ein Werkzeug gewesen, mit dem Leute dokumentieren können, dass sie an der Urheberrechts-Grundeinstellung, „alle Rechte vorbehalten“, nicht interessiert sind. Inwieweit ist es für dich ein Werkzeug, und inwieweit ist es eine Bewegung?

Lawrence Lessig: Ich denke, es muss beides verbinden. Es muss echten Wert erzeugen, also kann es nicht nur eine Bewegung sein – echten Wert meine ich im Hinblick auf Leute, die schöpferisch tätig sein wollen. Sehr wichtig dabei war der Aspekt eines Innovations-Ökosystems, das auf der Grundlage freier Inhalte aufbaut. Es gibt da zum Beispiel ein paar ganz tolle Android- und iPhone-Apps, die auf dem freien flickr-Archiv CC-lizenzierter Bilder aufsetzen. Nehmen wir Haikudeck: Damit lassen sich Bildersammlungen erstellen, indem die Software, sobald man anfängt, ein Wort zu tippen, die Bedeutung analysiert und dazu passende Fotos von flickr zieht, CC-lizenzierte Fotos. Und damit es hochwertige Bilder werden, schaut die App nach, aus welcher Kamera sie kommen, und wenn es eine super Kamera war, dann wird sie wohl auch super Fotos gemacht haben (lacht). Die Bilder, die man damit bekommt, sind echt erstaunlich; diese App, diese ganze Art und Weise, Kreativität verfügbar zu machen, das wäre alles gar nicht möglich ohne das grundlegende Ökosystem frei lizenzierter Werke.

Insofern erfüllt es eine Funktion; wie ja auch diese Remix-Musik und Remix-Websites sich nicht bloß auf CC stützen, sondern CC in ihrem Erbgut haben: Es ist schlicht unmöglich, ohne solch eine Struktur ein Werk zu lizenzieren. Auf diese Weise liefert es einen echten Mehrwert beim Erledigen deiner Arbeit. Aber eine Stufe darüber ist eine Bewegung, Leute, die zu Universitäten sagen, „eure Arbeit sollte nicht weggeschlossen bleiben“, worauf kommt „aber was sollen wir sonst machen?“, und darauf antworten sie, „ihr könntet ja zum Beispiel unter einer beliebigen CC-Lizenz veröffentlichen“. Und hier müssen wir beide Seiten ermutigen, weil es noch ein weiter Weg ist bis dahin, dass die Leute begreifen, dass das Urheberrecht in seiner herkömmlichen Form keinen Sinn ergibt.

netzpolitik.org: Als du CC mitbegründet hast, war es euch da schon klar, dass es so bald eine internationale, eng vernetzte Organisation werden würde, oder habt ihr euch am Anfang nur auf die USA konzentriert und erst später um den Rest der Welt gekümmert?

Lawrence Lessig: Ich habe von Anfang an daran geglaubt, dass wir einen internationalen Fokus brauchen. Und wir hatten das große Glück, Christiane Asschenfeld, heute von Donnersmarck, zu finden, die sich um die internationale Seite kümmern wollte. Sie eröffnete das Büro in Berlin und ruck-zuck hatten wir ein System für die vereinfachte Vergabe und die Portierung von Lizenzen, und dann hatten wir auch schon ein internationales Netzwerk. Und das war sehr wichtig, denn der Erfolg hing davon ab, dass man das Projekt als eine Idee der Freiheit auffassen würde – nicht als eine originär amerikanische Idee. Und indem wir das internationale Projekt unter unsere Fittiche nahmen, konnten wir viele Leute zur Mitarbeit hier bewegen: Sie portierten Lizenzen und wurden so ein Teil der Community. Ihr beide, ihr wart ja schon von Anfang an bei uns und wisst, wie dieser Prozess abgelaufen ist; aber in vielen Ländern wird das Ganze so wahrgenommen, dass einige zentrale Leute auf kreative, progressive Art über das Problem nachdenken, und das gibt den Anstoß für diverse andere Aktivitäten, die darauf aufbauen.

netzpolitik.org: Reden wir mal über die Zukunft: Immer mal wieder kommen Leute zu uns, die ein Projekt zu Open Access planen; oder eins darüber, wie man Open Access zertifiziert; oder die einen Open-Access-Standard für Wissenschaft und Forschung etablieren wollen. Und die sagen, „hey, es gibt da diesen Standard für Freie Software, der von der Free Software Foundation zertifiziert ist; da weiß jeder, klar, das hier ist Freie Software und das hier nicht. Aber bei Open Access ist das nicht so klar. Ist etwas Open Access oder wird es bloß so gelabelt? Kannst du dir also vorstellen, dass irgendwer, ein Komitee, eine Institution, einen weltweit verbindlichen Standard für Open Access definiert, wie das die Free Software Foundation für Freie Software getan hat?

Lawrence Lessig: Nun, es gibt da ja schon eine Körperschaft, die sich in Verbindung mit der Wikipedia ergeben hat und deren Aufgabe es ist, Werke freier Kultur als solche zu kennzeichnen. Und einige der CC-Lizenzen sind mit diesem Free-Cultural-Works-Label vereinbar, und einige andere sind es nicht. Ich halte das für wertvoll insofern, als da Leute sind, die diese Unterscheidung treffen mögen und die eben lieber auf Material aufbauen wollen, das als Werk freier Kultur definiert ist. Das ist schon sehr nützlich. Aber wovon ich noch nicht überzeugt bin, das ist diese Sitte, die Lizenzstruktur als Waffe gegen Leute einzusetzen, die ihr Material nicht genau so lizenzieren, wie gewisse andere Leute das erwarten würden. Es gibt da draußen eine unglaubliche Vielfalt von Kreativen, die aus den unterschiedlichsten Motiven Dinge erschaffen – und unter den verschiedensten Zwängen.

Ein Beispiel: Einer der ersten Filme, die wir bekamen, war ein Film von Davis Guggenheim, der auch „Eine unbequeme Wahrheit“ und „Waiting for ,Superman‘“ gemacht hat. Darin geht es um Erziehung, und er wurde teilweise in öffentlichen Schulen gedreht. Dementsprechend sieht man in dem Film ziemlich viele Kinder. Und Davis wollte den Film unter CC lizenzieren, um den Zugang möglichst einfach zu machen. Aber er fühlte auch eine moralische Verantwortung den Kindern gegenüber: Ihre Aufnahmen sollten nicht in einem anderen Kontext verwendet werden als demjenigen, in dem er die Kinder dargestellt hatte. Also verwendete er eine Lizenz, die keine Bearbeitung erlaubt (Anm.: CC-Lizenzelement ND), weil es ihm wichtig war, die Menschen zu schützen, die er zeigte. Das finde ich völlig in Ordnung, obwohl es ja streng genommen keine freie Lizenz mehr ist. Nein, ich finde, wir sollten aufhören, davon zu träumen, dass die ganze Welt so funktioniert wie freie Software, und lieber akzeptieren, dass es diese Unterschiede gibt. Und dann sollten wir die Leute in Richtung dieser Freiheit stupsen, damit sie Dinge tun können, die ihren eigenen Werten entsprechen und den jeweiligen Absichten ihres Kulturschaffens.

netzpolitik.org: Kommen wir zur nächsten Frage: Wir haben ständig diese Diskussion mit den Wikipedianern, dass nur die Lizenzen, die kommerzielle Nutzung erlauben, freie Kultur seien – den Rest könne man vergessen. Außerdem haben wir ein Definitionsproblem für „nichtkommerziell“ (Anm.: CC-Lizenzelement NC). Wie würdest du nichtkommerziell definieren? Und würdest du es im Rückblick aus heutiger Perspektive noch mal genauso machen?

Lawrence Lessig: Meiner Ansicht nach war „nichtkommerziell“ (weniger im geschriebenen Sinn der Lizenz als im umgangssprachlichen Verständnis) ein Platzhalter für eine bestimmte kulturelle Übereinkunft, die besagt: Ich stelle dir etwas zur Verfügung und es ist völlig okay, wenn du dich daran bedienst. Aber es ist absolut nicht okay, wenn du die Früchte meiner Arbeit nimmst, um sie sonst jemandem zu verkaufen. Okay, so würde das niemand ausdrücken; es gibt einfach kein simples Wort dafür, um diese Grenzlinie zu beschreiben, zumal die Linie je nach Kontext ja auch immer anders verlaufen kann. Jedenfalls finde ich es völlig nachvollziehbar, dass du zum Beispiel eine CD mit einer Menge frei lizenzierter Musik unter nichtkommerzieller Lizenz und mit Weitergabe unter gleichen Bedingungen (Anm. CC-Lizenzelemente NC, SA) rausbringen würdest. Denn die Idee, dass Sony daraus einen Filmsoundtrack machen und damit Geld scheffeln könnte – klar, ich verstehe vollkommen, wenn jemand sagt, er will das nicht.
Ich selbst lizenziere meine Arbeiten ja komplett frei; ich wäre happy, wenn jemand meinen Kram nehmen und daraus einen Film machen würde (lacht). Aber ich denke nicht, dass jemand die schlechtere Kreative ist oder weniger der Idee Freier Kultur verpflichtet, wenn sie sagt, „wenn jemand von meiner Arbeit profitieren will, sollte er zuerst mit mir darüber reden“. Ich wünschte, wir könnten die Grenze zwischen dieser kulturellen Übereinkunft und der jeweils angemessenen kommerziellen Interaktion klarer bestimmen. Und wir grübeln ja immer noch über Methoden, wie wir die Grenzbestimmung vereinfachen können. Aber ich bleibe bei meiner Überzeugung, dass es diese Trennung gibt und dass sich Menschen ausgenutzt fühlen würden, wenn sie ihre Arbeit verfügbar machen und daraus Dritten die Möglichkeit erwächst, Geld zu verdienen, ohne dass davon etwas beim ursprünglichen Urheber ankommt.

netzpolitik.org: CC feiert ja gerade zehnten Geburtstag. Welche Entwicklungen haben wir in Zukunft zu erwarten. Welche strategischen Ziele habt ihr für die Organisation und die Lizenzen? Soll es noch mehr Lizenzen geben, oder kümmert ihr euch um noch mal andere Sachen?

Lawrence Lessig: Ich hoffe – aber ich bin nicht mehr im Management, also kann ich nichts versprechen – auf einen sehr spannenden neuen Ansatz, den wir zurzeit diskutieren. Das ist der Ansatz, mehr Leute an die Lizenzierungsstrukturen heranzuführen, indem wir ihnen eine effektivere Methode an die Hand geben, ihre Rechte durchzusetzen. Dann könnte auch, sagen wir, ein Profifotograf ein Interesse haben, so eine Lizenz zu verwenden. Er könnte dann guten Gewissens die nichtkommerziellen Rechte an seiner Arbeit freigeben, wenn er im Gegenzug weiß, er bewegt sich innerhalb eines Rechtsrahmens, in dem die Durchsetzbarkeit seiner Rechte viel effizienter ist als im bestehenden System. Daran arbeiten wir jedenfalls momentan. Und darin sehe ich eine riesige Chance, denn damit würde man ja nicht nur mehr Werke frei unter CC-Lizenzen zugänglich machen, sondern man würde im Prinzip die Urheberrechts-Gesetze ganz allgemein vereinfachen.

Ich glaube auch, dass wir (hoffentlich gemeinsam mit der Wikipedia) neue Anreize schaffen müssen, um die Commons (Anm. Im Deutschen manchmal auch Allmende genannt), den Pool freier Werke, zu bereichern. Dafür brauchen wir Spiele und andere Apps, mit denen Leute eigene Beiträge leisten können oder mit denen sie sich im Pool bedienen können; es muss einfacher werden, die Commons zu füttern, damit man wiederum besser Material finden und darauf aufbauen kann. Dieser Aspekt, die Commons leichter als bisher anzureichern und zu kuratieren, wird meines Erachtens sehr entscheidend sein. Ich hoffe, das sind die beiden Wege, die CC einschlagen wird.

netzpolitik.org: Magst du uns drei CC-Projekte nennen, die du besonders toll fandest und bei denen du dachtest, wow, fantastisch, wie man auf freien Lizenzen neue, unglaubliche Dinge aufbauen kann?

Lawrence Lessig: Puh, nur drei neue, unglaubliche Projekte?

netzpolitik.org: Du darfst gern auch zehn aufzählen!

Lawrence Lessig: Es gibt da einige Remix-Projekte, die im CC-lizenzierten Bereich für Wettbewerb gesorgt haben. Und was ich immer extrem ermutigend finde, sind diese Geschäftsmodelle, die auf der Basis kreativen Ausdrucks etwas Neues obendrauf setzen, weil das für mich die Idee eines Ökosystems stützt. Über Haikudeck hatte ich ja schon gesprochen; oder nehmen wir ein Projekt wie al-Dschasira,. Dort werden alle palästinensischen Filme unter der freiesten Lizenz, CC-BY, veröffentlicht, damit das Material möglichst leicht zugänglich ist und Dokumentarfilme und TV-Nachrichten Zugriff darauf haben, was wirklich in Palästina passiert. Das fand ich sehr spannend. Aber nichts ist so wesentlich wie die Entscheidung der Wikipedia-Community, dass dies die Infrastruktur-Plattform sein soll, auf der sie weiter aufgebaut werden soll. Es dauerte etliche Jahre, bis dieser Übergang ausgehandelt war, und es war viel Bescheidenheit und Weisheit gefragt, bevor Richard Stallman der Migration zustimmte. Aber ich denke, das macht nochmals deutlicher, dass CC eine Dachmarke für freie Kultur ist, und damit sollte die Prominenz und der Erfolg des Projekts auf Dauer gewährleistet sein.

netzpolitik.org: Wie entscheidend ist Netzneutralität für die Weiterentwicklung dieser neuen Bewegung und für die Kreativkultur allgemein?

Lawrence Lessig: In meinen Augen ist Netzneutralität sehr entscheidend, und zwar nicht nur für freie Kultur. Freie Kultur hängt davon ab, vielleicht sogar mehr als andere Dinge (darüber wäre mal nachzudenken), aber es betrifft eben mehr als nur die freie Kultur. Ich halte sie für einen eigenen, unabhängigen Wert, um den wir uns kümmern müssen, zusätzlich zu dem Problem, wie wir die Kontrolle von Inhalten ausbalancieren. Von Benkler habe ich für mein Buch „The Future of Ideas“ (Die Zukunft der Ideen) das Konzept einer in Schichten aufgebauten Architektur geklaut. Ich habe das Konzept auf drei Ebenen eingedampft und stelle mir vor, dass es auf jeder Ebene eine freie und eine proprietäre Komponente gibt. Der Kerngedanke ist, dass man auf jeder einzelnen Ebene zumindest eine Balance zwischen frei und proprietär herstellen muss, und im Idealfall würde man den freien Anteil maximieren. In diesem Schema bewegt sich Netzneutralität auf einer anderen Ebene als freie Kultur, aber die beiden Aspekte greifen ineinander und bedingen einander.

netzpolitik.org: Wie würdest du Netzneutralität definieren? Darunter stellt sich ja jeder was anderes vor.

Lawrence Lessig: Netzneutralität entstand aus dem, was Netzwerkarchitekten das Ende-zu-Ende-Prinzip nennen. In Stanford hatten wir um 2001 eine Konferenz zum Thema „Architektur des Ende-zu-Ende-Prinzips“. Dort trafen sich Tim Wu, Barbara van Schewick, Yochai Benkler und eine Menge anderer Leute, um darüber zu sprechen, inwieweit dieses konstruktive Prinzip wirtschaftliche und soziale Folgen hatte und warum es so wichtig war, es aufrecht zu erhalten. Dort begann Tim die Arbeit am Projekt, dann mussten wir dem Kind einen Namen geben, und im Oktober 2002 wurde die Netzneutralität geboren. Und egal aus welcher Richtung man es betrachtet, darf man es nicht nur technisch sehen – es ist immer entscheidend, die politische Ausrichtung und den Wettbewerbsaspekt dieses Prinzips im Auge zu behalten. Es ist zwar ein technisches Prinzip, aber es hat uns ein wettbewerbsfreundliches Ökosystem gebracht, und es liegt an uns, das Wesentliche dieses Prinzips zu bewahren, um damit zugleich das Wettbewerbs-System erhalten zu können.

Für mich ist dabei wichtig, dass in diesem Ökosystem keine rechtliche Möglichkeit vorgesehen ist (die technische Möglichkeit gibt es immer), dass das Netzwerk zu Diskriminierungszwecken eingesetzt wird. Denn das wäre Gift für jeglichen Anreiz, Innovationen bei Apps und Inhalten voranzutreiben, die in diesem Netzwerk zum Einsatz kommen. Vielleicht sollten wir das Prinzip durchsetzen, indem wir den im Netz involvierten Firmen bestimmte Arten von Verträgen gesetzlich verbieten – das wäre sicher besser, als einen Regulierer darauf anzusetzen, wie man die Kanäle sauber und offen hält, damit die Daten fließen können. Aber das ist nur eine Detailfrage.

Im Kern geht es darum, sicherzustellen, dass niemand seine Macht über die Infrastruktur dazu missbrauchen kann, zerstörerische Macht im Wettbewerb zu erlangen. Das muss man besonders für die USA betonen, weil wir die Idee, die damals Open Access hieß, schon aufgegeben haben – es ging damals um den Letzte Meile-Zugang konkurrierender Infrastruktur-Anbieter im Netzwerk. Dazu war im 1996er Kommunikationsgesetz der USA etwas festgeschrieben, aber das war unzureichend, weil es sich nur auf Telefonleitungen bezog, nicht aber auf Datenkabel.
Aber als 2000 die Bush-Regierung an die Macht kam, war das Prinzip nicht mal mehr für Telefonleitungen gültig. Es gab damit auf der physikalischen Ebene keinen verbindlichen Wettbewerb mehr, nun ging es also darum, ein Modell für funktionierenden Wettbewerb auf der logischen Ebene zu etablieren. Dazu sollte das Ende-zu-Ende-Prinzip beitragen. Daraus erklärt sich auch, warum es in unterschiedlichen Teilen der Welt unterschiedlich wichtig ist. In Barbara van Schewicks Worten: Selbst bei optimalen Wettbewerbsvoraussetzungen auf der physikalischen Ebene müssen wir uns immer noch Sorgen um die Netzneutralität machen. Trotzdem denke ich, dass die Netzneutralität unter weniger Druck steht, je stärkerer Wettbewerb auf der physikalischen Ebene stattfindet.

Andere Länder überall auf der Welt bleiben dem Ideal von Open Access auf der physikalischen Ebene übrigens immer noch treu, lange nachdem die USA sich davon verabschiedet haben. Und wie man rückblickend feststellen muss: Eine Studie von Yochai Benkler für das Berkman-Center hat gezeigt, dass Länder, die am Open-Access-Prinzip festhielten, viel schnelleres, preisgünstigeres und besseres Internet anbieten konnten als Länder wie die Vereinigten Staaten, die Open Access aufgegeben hatten. Solche Länder mögen sich vielleicht weniger Sorgen um Open Access und Netzneutralität machen müssen als wir; aber ich denke, man kann überall beobachten, besonders hier in Deutschland, wie der Wettbewerb auf der physikalischen Ebene allmählich verkrustet und verkalkt. Und deshalb ist es so wichtig, darauf zu achten, dass zumindest auf der logischen Ebene hinreichender Wettbewerb erhalten bleibt.

Das Interview mit Lawrence Lessig führten John Weitzmann und Markus Beckedahl im September in Berlin. Das Transcript wurde freundlicherweise von Christian Wöhrl erstellt und übersetzt. Es ist zuerst bei netzpolitik.org erschienen.



Gastbeitrag in Allgemein, Recht
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